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Presseberichte | |
Musikgeschichte Berlin - Gronau -
Enschede
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Gronau - Vor 100 Jahren nahm Pieter Herfst (1887-1960) in Berlin seine erste Schallplatte auf. Über verschlungene Wege gelangte er zwanzig Jahre später nach Gronau – und prägte dort bis 1960 das Musikleben. Die letzten Mitglieder seiner Band traten später mit Udo Lindenberg auf.
Das „Grand Gala“ war nach heutigem Sprachgebrauch ein Designer-Restaurant nach neuestem Geschmack. Der Architekt Paul Renner (1878-1956) gestaltete die Inneneinrichtung, die 1913 in einem mehrseitigen Artikel der Zeitschrift „Innendekoration: mein Heim, mein Stolz“ gewürdigt wurde: Farbeffekte in Goldgelb und Grün, Barschränke aus Metall, verspiegelte oder mit Stoff bezogene Wände und künstliche Beleuchtung weisen bereits in Richtung „Neue Sachlichkeit“ und lassen den wilhelminischen Pomp hinter sich. Freitreppe, Bar, Konversationszimmer, Plauderecke – es fehlte an nichts. Das aus der Gründerzeit stammende Gebäude an der Potsdamerstraße 91 in Berlin-Tiergarten steht bis heute, wirkt aber nach zwei Weltkriegen und Umbauten heruntergekommen, steht zurzeit leer. Ganz anders das Bild vor dem Ersten Weltkrieg: Gleich zwei Orchester leistete sich das noble Weinrestaurant, das seine Türen von abends um acht bis morgens um vier öffnete. Das Jahr 1913 war aber auch das Jahr, in dem der argentinische Tango und eine überdrehte „Tangomanie“ von Paris aus Berlin erreichte. Auch Pieter Herfst und sein Orchester waren am Puls der Zeit und nahmen sofort die neuartige, rhythmische und erotisierende Tangomusik in ihr Repertoire auf. Der Tango und die Tangomode brachen mit gewohnten Traditionen und sorgten immer wieder für Skandale. Am 20. November 1913 verbot Kaiser Wilhelm II., dass seine Offiziere in Uniform Tango tanzten. Gut eine Woche später nahm Pieter Herfst mit seinem „Orchester P. D. Herfst“ seine erste Tangoplatte auf. Für den 28. November 1913 verzeichnen die Plattenkataloge sechs Aufnahmen, insgesamt drei Grammophonplatten, von denen zumindest die wichtigste sich bis heute erhalten hat. Herfst spielte mit seinem Streichorchester Ohrwurm und Modehit, einen aus dem Casino von Deauville stammenden Tango des französischen Komponisten Noceti ein. Der Name des Tangos, „La Seduccion“ (Verführung), spricht dabei für sich. „Seduccion“ bietet eine langsame, traurig-sehnsüchtige Melodie, die im kontrastreichen zweiten Teil vom Moll zu Dur wechselt. Nebenbei bemerkt: Drei Jahre nach Herfst, 1916, wird Jean Goldkette in den USA eine „Piano roll“, eine gelochte Papierrolle für mechanische Klaviere, mit „Seduccion“ bespielen. Auch die Anfänge dieses Jazzmusikers liegen beim Tango der Vorkriegszeit. Doch zurück nach Berlin: Als zweiten Titel wählte Herfst ebenfalls einen aus Europa stammenden Tango, „Tango Maxine“ von Siegwart Ehrlich (1881-1941). Ehrlich nahm gekonnt die musikalischen Zeitströmungen, ob Tango der Ragtime, auf und hatte in den 1920er-Jahren große Erfolge mit Schlagern wie „Ich bin die Marie von der Haller-Revue“, „Isabelle huppt in die Welle“, „Amalie geht mit ‚nem Gummikavalier“, die bis heute von Max Raabe gesungen werden. Wegen seiner jüdischen Herkunft wurde Ehrlich von den Nationalsozialisten nach 1933 aus Deutschland vertrieben. Die „Deutsche Grammophon“ versuchte ihren Verkaufser-folg zu steigern, indem sie auf den Platten vermerkte, das Orchester Herfst werde von Robert L. Leonard geleitet. Leonard (geboren 1879, seine Spuren verlieren sich in den USA) war im Hauptberuf ein erfolgreicher Modezeichner und Grafiker, nebenbei aber ein umschwärmter Turniertänzer und der Erfinder des „Tanzsports“. 1913, im Jahr der Plattenaufnahme, veröffentlichte er gemeinsam mit Franz Wolfgang Koebner ein illustriertes „Tanz-Brevier“, in dem die neuen Modetänze, unter anderem der heiß begehrte Tango, erläutert wurden. Zum Einstudieren wurden Grammophonplatten empfohlen – und das förderte wiederum die Einnahmen der Plattenfirmen. Mit 26 Jahren war Pieter Herfst Mitglied eines erstklassigen künstlerischen Netzwerks, das Musik, Tanz, Architektur und Gastronomie zu einem neuen „Lifestyle“ verband. Der Erste Weltkrieg beendete jedoch die Tangowelle und zerstörte sein gesellschaftliches Umfeld. Europas Tangohelden der Jahre 1912 und 1913, jene „Ritter von Snob mit Einglas, gekrümmter Rückenlinie und nasaler Sprachbehandlung“, mussten in den Krieg ziehen, viele starben, andere verloren Anfang der 1920er-Jahre ihr Vermögen. Die Glamourwelt des Kaiserreichs war untergegangen. Wirtschaftliche Gründe zwangen 1919 auch Pieter Herfst zur Rückkehr in die Niederlande, um seine Familie ernähren zu können. Über Amsterdam, Arnheim, Den Haag und Enschede gelangte er 1932 nach Gronau. Im Hotel zur Post (heute steht an diesem Platz das Volksbank-Gebäude) trat er mit seiner „Tango-Kapelle Herfst“ auf. Der Tango war wieder einmal in Mode gekommen und Herfst brachte sein Können und Know-how in die Grenzstadt mit. Durch die Textilindustrie war hier schnelles Geld zu verdienen, aber nur an den Wochenenden, wenn die Maschinen für kurze Zeit stillstanden. Herfst gab Klavierunterricht, dirigierte das Gronauer Konzertorchester und den Evangelischen Kirchenchor, war Pianist der Kapelle Klose und Gründer der „Enschedesch’ Opera en Operette Gezelschap. Musiker wie Berni Bauta aus Epe haben noch nach dem Zweiten Weltkrieg Tanzmusik mit ihm gemacht. Die Aufnahme seiner ersten Tangoplatte mit der Bestellnummer 15717 mag eine kleine Szene sein, verbindet man sie mit Publikationen wie Florian Illies’ Zeitporträt „1913“, so zeigt sich auch hier eine letzte Hochphase europäischer Kultur vor den Zerstörungen des Ersten Weltkrieges. Als Pieter Herfst 1932 in Gronau wieder Fuß fasste, bereitete sich bereits die nächste Jahrhundertkatastrophe vor, die auch sein Leben noch einmal gründlich verändern sollte. Alfred Hagemann |
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