Enschede/Gronau - In
Enschede-Roombeek, in der Gaststätte "Nieuwlustpark", Theetuin - Dancing
- Cabaret", wird am 21. September 1935 - in dieser Woche also vor 75
Jahren - die "Enschedesch´ Opera en Operette-Gezelschap" (E.O.O.G.)
gegründet. Instrumentalisten und Sänger aus Enschede und Gronau
unterzeichnen an diesem Tag unter der Leitung des Pianisten und
Dirigenten Pieter Herfst (1887-1960) die Gründungsurkunde.
Die Musiker haben große
Pläne, denn die Weltwirtschaftskrise macht ihnen schwer zu schaffen.
Trotz guter Ausbildung müssen sie fast alle ihr Geld mit
Gelegenheitsjobs in Cafés oder Hotels verdienen, die Einführung des
Tonfilms hatte weitere Arbeitsplätze gekostet. Vom Staat ist nur wenig
zu erwarten. Seit Jahren ist Eigeninitiative gefragt. Man hat sich
bereits zu Sinfonieorchestern (der "Twentsch Orkest Vereeniging oder dem
"Gronauer Konzertorchester") zusammengefunden, um einen festen
Abonnentenkreis an sich zu binden, nun wird ein weiterer Schritt gewagt
und eine Operettengesellschaft in ihrer komplexen Struktur auf die Beine
gestellt - mit Orchester, Sängern, Chor, Bühnenbild, Büro und vielen
weiteren Aufgaben.
Ende der 1920er-, Anfang der 1930er-Jahre "boomt" die Operette. In
Hotels, Sälen und Restaurants werden auf Operettenprogramme und "Wiener
Abende" angeboten: in Gronau im Saal Lilienfeld (Mühlenmathe). In der
Enscheder Schouwburg ist regelmäßig die "Fritz-Hirsch-Operette" aus Den
Haag zu Gast, zu besonderen Gelegenheiten fährt ein Theaterzug nach
Münster. Im Unterschied zu den städtischen oder privaten Theatern ist
die E.O.O.G. aber "kein geschäftliches Unternehmen", sondern eine
"Vereinigung von Freunden der musikalischen Bühnenkunst, die zugleich in
unserem Grenzgebiet die freund-nachbarlichen Beziehungen pegen möchte",
wie es 1937 in einer Begrüßungsansprache heißt. Nachwuchstalente werden
"hier zuerst entdeckt" und gefördert, beispielsweise die aus Enschede
stammende Sopranistin Paula Pot (1915-1992), die ihre Karriere ab 1941
in Amsterdam fortsetzt.
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Pieter Herfst ist die treibende Kraft, die Schlüsselfigur der E.O.O.G.
Er ist gleichzeitig Vorsitzender und Dirigent, seine Kinder verstärken
das Orchester, seine Wohnung (Gronausche Straat 633, gegenüber dem Hotel
Dolphia) dient als Vereinssekretariat. Das nötige Know-how bringt er aus
seinen Berliner Zeiten mit: Herfst macht ab 1908 in Berlin Karriere, ist
dort Pianist in den besten Salon- und Tanzorchestern. In der
wirtschaftlich schwierige Situation nach dem Ersten Weltkrieg muss er
dann aber in die Niederlande zurückkehren, Gulden verdienen, um seine
Familie ernähren zu können. Im Amsterdamer "Tuschinski-Theater" arbeitet
er zunächst im Kinoorchester von Max Tak (1891-1967), dann geht er für
mehrere Jahre nach Arnheim. Im Hengeloer "Palace"-Kino wird er bis zur
Einführung des Tonfilms engagiert, dann zieht er mit seiner Familie nach
Enschede. Ab Ende 1932 gibt es für ihn in den Textilstädten des
Münsterlands attraktive Angebote. Als Pianist der "Tangokapelle Herfst"
bzw. der "Kapelle Klose" tritt er zunächst in Gronau, später auch in
Nordhorn und in Bad Bentheim auf. In Enschede ist Herfst mit seinem
Berufskollegen C. J. Langefeld (1890-1977), wie auch Fotos belegen, gut
befreundet und dirigiert zeitweilig auch dessen "Twents Orkest
Vereniging". Im Enscheder Kulturleben entsteht ab 1936 eine Lücke, denn
der alternde Stardirigent H.B. Roetering Schünlau (1866-1939) verlässt
die Stadt und zieht nach Den Haag. Diese Situation bietet für Herfst und
Langefeld neue Chancen.Aus Enschedes "guter Gesellschaft" kommt
finanzielle Unterstützung für die E.O.O.G.: In der teilweise erhaltenen
Sponsorenliste nden sich klangvolle Namen, vor allem:
Bürgermeistersgattin Rückert Bosch führt die Liste an, ebenso vertreten
sind die Fabrikantenfamilien Baurichter, Brasz, Scholten, Stroink
Beltman, Tattersall-Borgman, van Gelderen, van Heek, ter Horst, aber
auch der Zeitungs- und Verlagsbesitzer van der Loeff fehlt nicht.
Einen wichtigen deutschen Kooperationspartner findet Herfst in dem
Multitalent Joachim von Ostau (1902-1969), der ebenfalls auf eine
Berliner Künstlerkarriere zurückblicken kann. Der Schauspieler,
Regisseur, Autor und Fabrikant lebt ab 1931 in Gronau und ist mit der
Tochter des Textilindustriellen Dr. Hendrik van Delden (Firma Gerrit van
Delden & Co.) verheiratet. Joachim von Ostau und seine Ehefrau Erna,
eine exzellent ausgebildete Schauspielerin, sind Mitglieder des Gronauer
Fabrikantenclubs (der "Gesellschaft Erholung") und seines Clubtheaters.
Der Theaterkreis der "Gesellschaft Erholung" und die "Enschedesch´ Opera
en Operette Gezelschap" arbeiten von Anfang an eng zusammen, die E.O.O.G
ist also nicht so niederländisch, wie es auf den ersten Blick scheinen
mag. Der Spruch aus der Gronauer Textilindustrie: "Je deutscher die
Firma, desto holländischer das Kapital", kehrt sich insofern im
Kulturbereich um. Hier gilt: "Je holländischer die
Operettengesellschaft, desto deutscher ihr Kapital (und Personal)"!
Durch diese Konstruktion können vermutlich die Kontroll- und
Mitsprachebefugnisse der Reichskulturkammer auf ein Minimum reduziert
werden. "Ofziell" sind die Gronauer Aufführungen der E.O.O.G. ab
September 1935 lediglich "Gastspiele" einer ausländischen
Amateurvereinigung. Damit nicht etwa Arbeitsplätze deutscher Künstler
gefährdet werden, gilt die Verpichtung, dass kein Prot erzielt werden
darf, d.h. dass die Einnahmen für das Winterhilfswerk oder das Rote
Kreuz abgeführt werden müssen.
Als erste Produktion bringt die E.O.O.G. Ende 1935 die Berliner
Schlageroperette, "Uschi" von Jean Gilbert auf der Gronauer
Clubhaus-Bühne (Alstätter Straße) heraus. Weil Gilbert aber als
jüdischer Komponist auf der Verbotsliste der Reichsmusikkammer steht,
kann eine öffentliche Aufführung nur in der Enscheder Sociëteit
stattfinden. Von Gronau fährt ein Sonderzug! "Het debuut is een eclatant
succes geworden" ("Das Debüt ist ein eklatanter Erfolg geworden")
schrieb die Tubantia. Dies bestätigte Herfsts und von Ostaus Konzept,
überwiegend mit Laien und nur mit einzelnen Profis zu arbeiten.
Klingende Namen und wichtige Experten für die Arbeit der E.O.O.G. sind
der Regisseur A. Alexanders, Amsterdam, und Tadjana Tamarowa, eine
russische Tänzerin mit Engagements in Amsterdam und Brüssel.Von 1935 an
gibt es in jedem Jahr eine Neuproduktion und jeweils Aufführungen in
Holland und Deutschland. In Gronau wird stets im Apollo-Theater, einem
modernen UFA-Kino mit eingebauter Bühne und Orchestergraben, gespielt.
Nach "Uschi" folgt im Mai 1936 als zweite Produktion der E.O.O.G. ein
niederländischer "Publikumshit", die Oper "Faust" von Charles Gounod.
Zwei Orchester, 60 Musiker, insgesamt 140 Mitwirkende werden auf
Plakaten und Anzeigen angekündigt. Die Presse ist voller Lob, bemerkt
allerdings auch, dass die E.O.O.G. bei einer Oper spürbar an ihre
Grenzen gerät. Im April 1937 folgt die völlig ausverkaufte "Fledermaus"
von Johann Strauß, u.a. mit Paula Pot in der Rolle der Rosalinde und
Joachim von Ostau als Rentier Eisenstein. Zum Jahresbeginn 1938 schließt
sich der "Zigeunerbaron", an wiederum mit großem Zuspruch des Publikums.
Im Mai 1938 findet schließlich eine ganz besondere Premiere statt: Ostau,
der nebenbei an seiner Autorenkarriere arbeitete, textet die Operette
"Insel der Träume" und lässt sie in Berlin von dem jungen Komponisten
Hans-Martin Majewski (1911-1997) vertonen. Viele erfolgreiche Operetten
sind von der Reichsmusikkammer verboten worden, der Bedarf an neuen
Stücken ist groß. Die "Insel" begeistert! Für von Ostaus ehrgeizige
Pläne ist die Grenzregion nun aber zu klein: Über Oldenburg und Zwickau
bringt er die Operette auf die Berliner Spielpläne gebracht - bis dann
der Krieg ausbricht. Für 1939 plant Joachim von Ostau wiederum die
Aufführung eines eigenen Werks: seine 1934 in Baden-Baden uraufgeführte
musikalische Komödie "Hilfe, ein Geldfeind" sollte als
deutsch-niederländisches Projekt noch einmal groß herausgebracht werden.
Ostaus zunehmende Konflikte mit dem nationalsozialistischen Staat führen
letztendlich zu einem Aufführungsverbot - auch für die niederländische
E.O.O.G.
Der Einmarsch der deutschen Wehrmacht in den Niederlanden ist eine tiefe
Zäsur im Kulturleben der Grenzregion. Nach 1945 ist das "musikalische
Netzwerk", das die Textilstädte und ihr Umfeld verband, zerstört. Die
Versuche Joachim von Ostaus, die Operettenproduktionen in Gronau ohne
niederländische Kräfte fortzusetzen, schlagen fehl. Operetten werden
fortan nicht mehr selbst produziert, sondern von außen "eingekauft".
An die Stelle der E.O.O.G. tritt 1950, elf Jahre nach Beginn des Zweiten
Weltkriegs, die "Enschedes´ Operette Gezelschap" (E.O.G.). Ihr Name
knüpft zwar an die Vorkriegszeit an, Pieter Herfst wird wieder zum
Dirigenten gewählt, er leitet 1951 auch das erste Nachkriegskonzert in "Ons
Huis" - jedoch hat sich seit dem Beginn des Krieges vieles verändert.
Herfst verlässt die neu gegründete Gesellschaft 1955 im Konikt, weil sie
ihm zu "dilettantisch" ist, und dirigiert bis zu seinem Tod
ausschließlich in Hengelo und Oldenzaal. Mit der Gründung von "Opera
Forum" setzt 1955 ein Prozess der Professionalisierung und
Institutionalisierung ein, der die Rolle des bürgerlichen Engagements im
Musikleben der Stadt Enschede noch einmal verändert.
"Een dilettantengezelschap, dat in Nederland eenig is" ("eine
Amateurgesellschaft, die in den Niederlanden einzigartig ist"), rühmt
Pieter Herfst 1935 seine Neugründung. Heute, fast 75 Jahre später,
spricht einiges dafür, dass Herfst recht hatte: Im
niederländisch-deutschen Grenzverlauf zwischen Heerlen und Aachen,
Enschede und Gronau war und ist die E.O.O.G. tatsächlich eine
einzigartige Erscheinung, die einzige bisher bekannte binationale
Operettengesellschaft, deren Eigenproduktionen als ein Höhepunkt der
niederländisch-deutschen Kulturkooperation bis 1940 angesehen werden
können. Im zeitgenössischen niederländischen Kontext gesehen, war die
E.O.O.G. allerdings nicht ganz so einzigartig, wie Pieter Herfst dachte.
Fred Bredschneyder und andere Chronisten der Operette in den
Niederlanden weisen darauf hin, dass in den niederländischen "Crisisjaren"
(1928-1939) zahlreiche Operettengesellschaften gegründet wurden. Für
Zwolle (1934) und Tilburg (1938) lassen sich Belege finden. Die genaue
Erforschung und Dokumentation dieser Amateurgesellschaften der
Zwischenkriegszeit steht aber offensichtlich noch aus. Pieter Herfst hat
jedenfalls alle Dokumente "seiner" Operettengesellschaft und seines
Musikerlebens gesammelt und aufbewahrt: Sie sind schon als
Materialfundus "einzigartig".
" Im Gronauer "Cinetech"-Kino wird unter dem Titel "Gronau - Enschede
Berlin. Eine musikalische Reise durch die Welt der Unterhaltung von der
Weimarer Republik bis in die Nachkriegszeit" zurzeit eine Ausstellung
vorbereitet, die auch an die "Enschedesch Opera en Operette Gezelschap"
erinnern wird.
Alfred Hagemann
Westfälische Nachrichten Gronau,
20. September
2010 |